13 Februar 2006

Aufklärung oder Propaganda?

Die Verwissenschaftlichung der NS-Freimaurerforschung und ihre Grenzen

Erschienen in: Quatuor-Coronati-Jahrbuch 40 (2003), S. 75–84 (Anmerkungen siehe dort)

Daß Adolf Roßbergs Buch Freimaurerei und Politik im Zeitalter der Französischen Revolution im Sommer 1942 zur 150. Wiederkehr der Ausrufung der République Française erschien, war vom Verfasser nicht intendiert. Die Drucklegung hatte sich, wie er im Vorwort erläuterte, „durch den Ausbruch des Krieges verzögert“. Sie habe aber in der Zwischenzeit, wie er glaubte, dadurch „ihren besonderen Sinn“ erhalten, daß im Juni 1940 abermals deutsche Soldaten, unter ihnen Roßberg, „über das Schlachtfeld von Valmy“ gezogen waren. Bei der vom Berliner Nordland-Verlag als Band 2 der Reihe „Quellen und Darstellungen zur Freimaurerfrage“ gedruckten Untersuchung handelte es sich um eine Jenaer Habilitationsschrift. Ihr 1904 in Münchhof bei Ostrau geborener Autor war 1933 an der Universität Leipzig mit einer Arbeit über Sachsens Kampf ums Reichsvikariat promoviert worden. Zuvor hatte er ein Studium der Volkswirtschaft und Geschichte, Geographie und Germanistik in Greifswald, Tübingen, Heidelberg und Leipzig mit dem Staatsexamen abgeschlossen, um dann als Lehrer in Leipzig tätig zu sein. Roßberg fiel 1943 und erhielt einen Nachruf in der Historischen Zeitschrift.

Seine Arbeit hatte ein etwas besseres Schicksal. Da sie zum Teil auf Quellen beruhte, die nach Kriegsende jahrzehntelang verschüttet waren (insbesondere der Gothaer „Schwedenkiste“ mit dem Nachlaß Johann Joachim Christoph Bodes), wurde sie von nachfolgenden Forschern weiterhin herangezogen; bisweilen erstaunlich unbedenklich. So rügte Reinhart Koselleck zwar in einer Anmerkung zu seiner 1959 im Druck erschienenen Dissertation Kritik und Krise, daß Roßberg dazu neige, „Hoffnungen für Pläne, Pläne für vollendete Planungen und diese schließlich für geschehene Wirklichkeit zu nehmen“. Zugleich aber erkühnte er sich, die im Auftrag der SS entstandene Arbeit ausgerechnet dafür zu loben, daß in ihr die „politische Fragestellung [. . .] den Quellen adäquater behandelt“ sei als in René Le Forestiers unvergleichlich sorgfältigerer Studie Les Illuminés de Bavière et la franc-maçonnerie allemande von 1914. Kosellecks Nonchalance erklärt sich wohl daher, daß seine Arbeit unter der Ägide des „offenkundigen und unerträglichen Nazis“ Johannes Kühn entstand.

Wenn also der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson noch 1990 „Schatten der Illuminatenverschwörung“ auf die wissenschaftliche Erforschung der Freimaurerei des ausgehenden 18. Jahrhunderts fallen sah, so hatte daran das Nachleben von Roßbergs tendenziöser Untersuchung (die überdies in den 70er Jahren von einem rechtsradikalen Kleinverlag nachgedruckt wurde) seinen Anteil. Folgenlos blieb hingegen ein anderer, thematisch auffallend nahestehender Beitrag, der zur gleichen Zeit erschienen war und unzweifelhaft ein größeres Publikum erreichte: Karl Funks Aufsatz „Französische Revolution und Freimaurerei in Deutschland“, der im August 1942 ein Themenheft „Judentum und Freimaurerei“ der Nationalsozialistischen Monatshefte eröffnete.

Helmut Neuberger muß während der Recherchen zu seiner Untersuchung Freimaurerei und Nationalsozialismus Ende der siebziger Jahre ein unvollständiges Exemplar der von Alfred Rosenberg herausgegebenen Monatshefte durchgesehen haben. Ihm zufolge waren dort überhaupt nur zwei Beiträge zum Thema Freimaurerei erschienen, beide „aus der Feder eines nicht näher identifizierbaren Karl Funk“. Dieser habe die von ihm aufgeworfenen Fragen „in einer leidenschaftslosen und rationalen Weise“ behandelt, die „keine Assoziationen zu völkischen Propagandapraktiken“ aufkommen lasse und insofern den im Nordland-Verlag erschienenen Ergebnissen der SS-Freimaurerforschung vergleichbar sei.

Neubergers Darstellung ist in mehrerer Hinsicht korrekturbedürftig (was leider in der Neuausgabe seiner verdienstvollen Studie unterblieben ist). Erstens schrieb Funk (1875–1965)* weitere Texte für die NS-Monatshefte. So übernahm er es, Roßbergs Buch recht kritisch zu rezensieren (und bediente so ein weiteres Mal das Klischee vom Neben- und Gegeneinander von SD und Amt Rosenberg). Zweitens ist es wohl kaum „leidenschaftslos“ zu nennen, wenn Funk (um nur ein Beispiel zu nennen) in einem Dokument von 1838 den „ganze[n] Rattenkönig freimaurerisch-geheimbündlerischer Verfilzung klargelegt“ wähnte. Drittens lassen sich durchaus einige Informationen zusammentragen, die das Wirken Funks als Freimaurerforscher (wenn auch sparsam) beleuchten.

Einen ersten Anhaltspunkt bieten die Benutzerakten des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Im August 1934, am „25. Ernting“, stellte die Deutsche Wehrschaft von Gelsenkirchen aus für ihren Freimaurerei-Referenten, Hauptmann a. D. Funk, einen Antrag auf Einsicht in die thematisch einschlägigen Akten. Der am 7. Dezember 1919 gegründete Verband farbentragender und schlagender Verbindungen stand später in einem „Kameradschaftsverhältnis“ zum Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, in dem er schließlich am 12. September 1935 aufging. Wie sich herausstellt, war Funk Alter Herr der Erlanger Franco-Bavaria und publizierte seit 1931 Beiträge über bzw. gegen die Freimaurerei im Verbandsorgan Der Wehrschafter. 1933 brachte er erstmals einen längeren Aufsatz über „Friedrich des Großen Aufnahme in die Freimaurerei und seine Logenarbeit“ in den NS-Monatsheften unter. 1936 folgte ein auf Dahlemer Archivstudien beruhender Beitrag „Zum preußischen Edikt über geheime Verbindungen vom 20. Oktober 1798“ in der Münchner Zeitschrift Deutschlands Erneuerung.

Zu dieser Zeit war Funk durch das Amt Rosenberg als „Vortragsredner über Freimaurerfragen“ zugelassen worden. Bis zum August 1937 beschäftigte ihn der SD als wissenschaftlichen Mitarbeiter. Nachdem Funk dort aus nicht näher bekannten „finanziellen und organisatorischen Rücksichten“ ausgeschieden war, bemühte sich August Schirmer im September 1938 um seine Übernahme als „hauptamtlicher Mitarbeiter“ des in das Rosenberg-Imperium eingegliederten Erfurter Archivs der Zeitschrift Welt-Dienst. Zu einer Festanstellung scheint es nicht gekommen zu sein – Funk blieb wohnhaft in Berlin –, wohl aber zu einer geregelten Zusammenarbeit. Jedenfalls bezeichnete Schirmer Funk in einem Schreiben an Rosenberg vom 9. März 1940 als seinen „Mitarbeiter“. Schirmer (1905–48), Mitglied des gleichgeschalteten Reichstags und inzwischen Leiter der Frankfurter „Hauptstelle Juden und Freimaurerfrage“ des „Amtes für Sonderaufgaben“ des „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“, war von Funk auf einen in der Prager Tageszeitung Der Neue Tag erschienenen Artikel gestoßen worden, in welchem der SS-Professor Franz Alfred Six „die Gefährlichkeit der Freimaurerei [. . .] in erster Linie darin“ ausgemacht hatte, daß die Freimaurerei „die Rolle einer Schrittmacherin der Judenemanzipation“ übernommen habe.

Der kleine Artikel trug zwar die Überschrift „Neue Wege der Freimaurerforschung“, bot aber nichts Neues gegenüber dem von Six zwei Jahre zuvor gehaltenen und dann auch zum Druck beförderten Vortrag Freimaurerei und Judenemanzipation. Gleichwohl war es Schirmers Auffassung, Six habe sich „die seit vielen Jahren von Hauptmann a. D. Funk vertretenen Anschauungen zu eigen [ge]macht, ohne ein Wort über die Arbeiten Funks, die Six ebenfalls seit Jahren kennt, zu verlieren“. Schirmer sah eine doppelte Gefahr darin, daß der „seit Jahren für eine ernsthafte, in [Rosenbergs] Sinne liegende Erforschung der Freimaurerfrage“ eintretende Funk „um die Anerkennung seiner Verdienste und vielleicht um die Früchte seiner Arbeit“ gebracht und in der Folge seiner Dienststelle „das Primat [der] Erforschung der Freimaurerfrage aus der Hand genommen“ werden könne. Daher bat er dringend um das offenbar seit geraumer Zeit ausstehende Imprimatur der bei Rosenberg liegenden Arbeiten Funks, denen „ein persönliches Vorwort“ des NSDAP-Reichsleiters „den Rang in der Forschung“ würde eintragen können, der ihnen „zweifellos“ zukomme.

Um welche ungedruckten Arbeiten Funks es sich handelte, wird wohl nicht mehr restlos aufzuklären sein. Einen durchaus kryptischen Hinweis gibt der Aufsatz vom August 1942. Hier behauptete Funk von dem preußischen Diplomaten Wilhelm Dorow, dieser „Freimaurer und [. . .] Günstling Hardenbergs“ sei „bekannt als Fälscher der sogenannten Haugwitz’schen Denkschrift für den Kongreß zu Verona 1822“. Knapp zwei Jahre darauf, im letzten überhaupt ausgelieferten Heft der NS-Monatshefte, wurde Funk deutlicher. In einer Fußnote zu seinem Beitrag „Die Gedanken Mirabeaus über die Freimaurerei“ verwies er darauf, in einem unveröffentlichten Text den Beweis geführt zu haben, daß jenes von Dorow herausgegebene Dokument als Fälschung anzusehen sei.

Durch einen glücklichen Umstand hat sich ein Exemplar des hektographierten Typoskripts mit dem Titel „Verona. Die dem Kongreß zu Verona 1822 eingereichte Denkschrift des Grafen Curt v. Haugwitz eine Legende“ in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel erhalten. Es ist auf den September 1941 datiert und beginnt, nach einigen wenigen einleitenden Bemerkungen, mit der vollständigen Wiedergabe des hundert Jahre zuvor erstmals abgedruckten Dokuments mitsamt der Vorrede. In ihr war den Lesern anheimgestellt worden, Haugwitzens merkwürdigen Text „als eine Verirrung des Greises“ zu werten, „der in seinem Alter, aus seiner gänzlichen Zurückgezogenheit gern noch etwas Außerordentliches leisten, Aufsehen machen wollte“. Dorow hatte aber auch als bedeutungsvoll hervorgehoben, „daß der Graf sein ganzes Leben lang in den Mysterien der Maurerei und anderer geheimen Verbindungen befangen und verwickelt war“ (D 211).

Tatsächlich war der 1752 geborene Freiherr Heinrich Christian Curt von Haugwitz im April 1774 von der Leipziger Loge „Minerva zu den drei Palmen“ aufgenommen worden, wozu ihm eine Empfehlung des Göttinger Dichters Heinrich Christian Boie behilflich war. Im Mai 1775 wurde er auf Vorschlag des Provinzialgroßmeisters Gogel von der Frankfurter Loge „Zur Einigkeit“ an einem einzigen Abend zum Gesellen und zum Meister befördert. Auch in den Inneren Orden der Strikten Observanz erlangte Haugwitz Einlaß unter dem Namen „Eques a Monte sancto“. Eine Zeitlang gehörte er den Zinnendorfern zu, stand aber auch in Fühlung mit schlesischen Gold- und Rosenkreuzerkreisen. Dann trat er 1779 als Propagandist eines eigenen mystisch-theosophischen Systems auf. Von den sogenannten „Kreuzfrommen“ war allerdings nicht mehr viel zu hören, nachdem die Versuche, im Vorfeld des Wilhelmsbader Konvents auf die desorientierte mitteleuropäische Hochgradfreimaurerei Einfluß zu gewinnen, zu keinem greifbaren Ergebnis gekommen waren. Später entsagte Haugwitz, der 1786 zum Grafen erhoben wurde, allen Logensystemen und widmete sich allein seiner politischen Karriere. In den napoleonischen Kriegs- und Krisenjahren avancierte er zeitweilig zum bestimmenden Außenpolitiker Preußens.

„Mit Gegenständen der Politik, die ihrer Natur nach ein undurchdringliches Geheimniß sein sollen und sein müssen, sich zu beschäftigen, ist für jeden, den sein Beruf nicht dazu auffordert, eine Thorheit, es ist ein Frevel. Anders aber möchte es mit einem der Gegenstände sein, der ohne Zweifel die Aufmerksamkeit der gegenwärtigen Versammlung in Anspruch nehmen mag.“ (D 212) Die Gewißheit, die Haugwitz in den ersten Worten seiner Denkschrift zur Schau stellte, war nicht unbegründet. „Die geheimen Umtriebe“, von denen er handelte, waren nicht nur politisches Tagesgespräch. Das Thema hatte auch schon auf der Agenda der in Wien abgehaltenen Vorberatungen gestanden. So war der preußische Gesandte Christian Günther Graf von Bernstorff in Gesprächen mit Metternich zu dem Schluß gekommen, es könnte nützlich sein, „alle über die Verkettungen revolutionairen Bewegungen und Anschläge bisher gewonnene oder fernerhin zu erlangende Aufschlüsse in einen Mittelpunkt zu sammeln und dadurch eine möglichst vollständige Uebersicht der Natur, des Umfanges und der Zwecke der geheimen politischen Verbindungen zu erzielen“. Solche Aufschlüsse versprach Haugwitz. Was er mitzuteilen hatte, betraf allerdings längst Vergangenes, nicht die zeitgenössischen Aktivitäten etwa der neapolitanischen Carbonari. Haugwitz blickte zunächst mit ostentativer Beschämung auf die eigene Logenkarriere vor 1782 zurück. Er beschränkte sich aber nicht damit, Bemerkungen zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im ausgehenden 18. Jahrhundert zu machen. Vielmehr ging es um weitaus größere historische Zusammenhänge. Haugwitz zeigte sich überzeugt von der Existenz eines jahrhundertealten „geheime[n] Gewebes“, das „kein Hirngespinst“ sei, obwohl seine Entstehung so weit zurückliege, daß sie eingestandenermaßen „ins Fabelhafte“ falle (D 218).

Als Eingeweihter in die Hochgradsysteme der prärevolutionären Zeit meinte Haugwitz erkannt zu haben, daß die Ambitionen aller Observanzen nie bloß alchimistischer oder thaumaturgischer Erkenntnis, sondern letzten Endes immer der Weltherrschaft gegolten hätten: „Die Throne in ihrem Besitz und die Monarchen ihre Sachwalter, das war ihr Ziel.“ (D 214) Einschneidend war das Erlebnis der Lektüre von Saint-Martins Schrift Des erreurs et de la vérité, die Haugwitz von seinem Freund Claudius übersetzen ließ: „Ich glaubte anfänglich in ihr zu finden, was nach meiner Meinung in den Emblemen des Ordens lag. Je tiefer ich indeß in den Sinn dieses sonderbar geheimnißvollen Gewebes drang, je mehr überzeugte ich mich, daß irgend ein gewisses Etwas und von ganz anderer Natur im Hintergrunde läge. [. . .] Ich habe zu dieser Zeit die feste Ueberzeugung gewonnen, daß [. . .] die französische Revolution, der Königsmord [. . .] nicht allein damals schon beschlossen, sondern früher durch Verbindungen, Schwüre u. s. w. eingeleitet war [. . .]“ (D 216) Haugwitz scheute sich nicht, das „Umwälzungssystem“ über Bonaparte und Cromwell bis auf Molay zurückzuverfolgen: „Der Tempelorden war im Besitz des Geheimnisses. Molay wurde gerichtet, und eine traurige Erfahrung hat uns belehrt, daß es nicht ein Zufall war, der Ludwig den Sechszehnten in den Temple führte. Von dort aus sollte er den Manen des Meisters geopfert werden.“ (D 218) Seine schauerliche Geschichtsdeutung ließ Haugwitz in einen Appell an die Herrscher der Heiligen Allianz einmünden, die berufen seien, im „Glauben und Vertrauen zum Einzigen, Alleinigen Retter“ (D 219) einig zusammenzustehen und der verborgenen Gefahren zu wehren.

Zu dem Schluß, bei diesem kurzen Abriß einer sehr umfassenden Verschwörungstheorie handele es sich um eine „Legende“, genauer gesagt eine bewußte Fälschung seines Herausgebers, kam Karl Funk aufgrund einer Reihe von Beobachtungen, die sowohl den Text selbst als auch die Umstände seiner Überlieferung betrafen. Seine Argumentation muß an dieser Stelle nicht im einzelnen rekapituliert werden. Letztlich entscheidend war der Umstand, daß es Funk trotz intensiven Bemühungen nicht gelungen war, das Originalmémoire in den staatlichen Archiven von Berlin und Wien aufzufinden. Auch entdeckte er keine Indizien dafür, daß der Aufruf des maurerischen Renegaten die Verhandlungen des Kongresses in irgendeiner Form beeinflußt hätte. Angesichts dieser Umstände versuchte Funk es plausibel zu machen, daß Wilhelm Dorow als charakterlich ebenso wie politisch zweifelhafte Existenz als Urheber der Fälschung in Frage komme. Ein derart „minderwertiges Machwerk“, so forderte er abschließend, müsse aus dem „Repertoire des Kampfmaterials gegen die Freimaurerei“ gestrichen werden (F 42).

Die Forderung, quellenkritische Forschung an die Stelle mangelhaft fundierter Propaganda zu setzen, war in antimasonischen Kreisen nicht neu. Er kam auch nicht erst nach Erbeutung der freimaurerischen Archive auf. Schon der Titel von Rosenbergs Buch Freimaurerische Weltpolitik im Lichte der kritischen Forschung war überaus sprechend. Der mit ihm erhobene Anspruch mußte natürlich uneingelöst bleiben. Daß er nicht zuletzt die eigene Unsicherheit kaschieren sollte, ließ Rosenberg erkennen, indem er daran erinnerte, wie der „einst scharfe Kampf der katholischen Kirche gegen die freimaurerische ,Gegenkirche‘ durch Gebrauch gefälschter bzw. anrüchiger Unterlagen diskreditiert worden“ war. Die Dissoziierung der NS-Freimaurerforschung von ihren Ursprüngen in der Publizistik völkischer Eiferer schritt jedoch auch nach 1933 nur langsam voran. Dubiose Gestalten wie Friedrich Hasselbacher und Gregor Schwartz-Bostunitsch bestimmten zunächst noch das Geschehen und wurden nur allmählich an den Rand gedrängt. Als die von der SS geförderten Doktoranden und Habilitanden schließlich ins Zentrum vorrückten, machte es das Kriegsgeschehen unmöglich, die historische Auswertung der in Berlin zusammengezogenen und dann nach Niederschlesien verlagerten maurerischen Archivalien und Bibliotheksbestände im beabsichtigten Umfang fortzuführen.

Hauptmann Funk zählte nicht zum wissenschaftlichen Nachwuchs; er war ein Dilettant aus völkischen Kreisen. Nach Auskunft Schirmers hatte er zu den engsten Mitarbeitern Ludwig Müller von Hausens gehört. In dessen Zeitschrift Auf Vorposten war die Haugwitz-Denkschrift 1917 vollständig abgedruckt worden. Auch Funks oberster Dienstherr Rosenberg selbst, wie Müller von Hausen eifriger Propagandist der bekanntermaßen gefälschten Protokolle der Weisen von Zion, hatte sie in seinem Buch Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten von 1920, das noch 1937 unverändert wiederaufgelegt wurde, auszugsweise zitiert. Um so kühner war Funks Unterfangen, ein derart zentrales, durch wiederholten Gebrauch geheiligtes Beweisstück des Antimasonismus wie das Haugwitz-Memorandum als unecht erweisen zu wollen. Der Vergleich mit seinem Kollegen und Konkurrenten Roßberg ist instruktiv: Dieser erlaubte sich lediglich die matte Bemerkung, daß die Denkschrift „kritisch zu bewerten“ sei, „weil sie Haugwitz als Greis fast 35 Jahre später niederschrieb“. Insofern markiert Funks Typoskript einen Höhepunkt der Verwissenschaftlichungsbestrebungen der NS-Freimaurerforscher und ihrer Auftraggeber. Es zeigt aber zugleich auch deren Grenzen auf. Zum einen natürlich dadurch, daß es ungedruckt blieb: möglicherweise deshalb, weil Funks These als zu brisant eingeschätzt wurde. Zum anderen aber dadurch, daß das Ergebnis seiner Ermittlungen, Mutmaßungen und Schlußfolgerungen widerlegt werden kann. Die Denkschrift des Grafen Haugwitz war keine Fälschung. Dies zu belegen erfordert einen längeren Exkurs.

Zweifellos befindet sich der gesuchte Text nicht dort, wo man ihn am ehesten vermuten müßte, nämlich in der Dahlemer Außenamtsakte mit dem Titel „Pièces accessoires, esquisses etc. etc. présentées au Congrès de Verone, 1822“. Dieses Faszikel wurde im März 1935 von Funk eingesehen; bemerkenswerterweiser im Oktober 1938 auch von Roßberg. Auch auf anderen Benutzerbögen findet sich Funks Namenszug, so in den Unterlagen des Zivilkabinetts zur Freimaurerei von 1822 bis 1835, die er sich im November 1934 und erneut im Dezember 1938 vorlegen ließ. So erfolglos Funks Suche auch war, oberflächlich kann man sie nicht nennen. Allerdings reiste Funk nicht nach Leningrad, um die dortigen Bestände zu überprüfen, nachdem er in Wien Kopien von an den Zaren gerichteten Eingaben ohne Ergebnis durchgesehen hatte. Dennoch ist es nicht auszuschließen, daß Alexander das Original der Denkschrift nach Rußland mitnahm. Das würde zu einer Stelle aus dem Vorwort zu einem 1837 anonym veröffentlichten Fragment des mémoires inédits du comte de Haugwitz passen, an der betont wurde, daß der Zar Haugwitz zeitlebens große Wertschätzung entgegenbrachte: «Haugwitz parvint à s’assurer de l’estime d’Alexandre, qui s’est plû à lui conserver sa confiance jusqu’au dernier moment de sa vie. N’avons pas vu à Varsovie et dernièrement encore à Verone, lui en donner les marques les plus flatteuses?»

Ob Haugwitz tatsächlich in Verona mit dem Zaren gesprochen hat, der erst unmittelbar zuvor in senem Reich die Freimaurerei unterdrückt hatte, ist nicht leicht zu verifizieren. Funk versichert glaubwürdig, er habe viele „Äusserungen und Berichte“ (F 9) über den Kongreß gelesen und keine Hinweise auf den Grafen gefunden. Vielleicht zählen darunter Gentzens Tagebücher, die von zahllosen Begegnungen im Verlauf des Kongresses zeugen, nicht aber von einem erneuten Zusammentreffen mit Haugwitz, den Gentz seit spätestens 1806 kannte, oder von der Lektüre seiner Denkschrift. Auch Chateaubriands Bericht Congrès de Verone von 1838 müßte Funk gesehen haben. Darin ist von Haugwitz so wenig die Rede wie von manchen anderen Teilnehmern, weil der Verfasser sich auf die eigentlichen politischen Verhandlungen konzentriert und seine Leser im übrigen auf nach seinem Ableben zu publizierenden Lebenserinnerungen verweist. Diese sind jedoch nie erschienen. Dem separat veröffentlichten Bericht über die Tage von Verona läßt sich lediglich entnehmen, daß die von den spanischen Problemen beherrschte Debatte der Kongreßteilnehmer nicht zuletzt die Sorge über das dortige Geheimbundwesen zum Hintergrund hatte. Das Treiben der sich „Communeros“ nennenden spanischen Carbonari reizte Chateaubriand zu einem historischen Vergleich: «La révolution espagnole comptait un élément de plus que la révolution française: la dernière avait les clubs, la première des clubs et des sociétés secrètes, c’est-à-dire le pouvoir législatif et le pouvoir exécutif du mal.»

Nicht zur Verfügung standen Funk die Diarien eines anderen berühmten Kongreßteilnehmers, nämlich Hardenbergs. Anhand ihrer seit kurzem vorliegenden Edition läßt sich nun immerhin bestätigen, daß Haugwitz tatsächlich zu Gast in Verona war. Sogar beim voraufgegangenen Kongreß von Troppau war er bereits zugegen gewesen. Am 27. Oktober 1820 notierte Hardenberg: „Graf Haugwitz bey mir, welcher nach Italien geht. Seine Gesundheit ist nicht die beste.“ Hardenberg konnte nicht ahnen, daß ihn sein Besucher um zehn Jahre überleben sollte. Schon vier Monate später, am 23. Februar 1821, trafen die beiden einander in Venedig wieder: „Der Graf Haugwitz aß heute mit uns. Abends giengen wir zu ihm und mit ihm zu Fuß nach dem Marcus Platz und in ein paar Caffée Häuser. Il boit et est presque dans un État d’Yvresse – parle à tort et à travers.“ Daß der mittlerweile in einer Villa bei Este lebende Haugwitz einen wenig günstigen Eindruck hinterließ, hinderte die preußische Delegation nicht daran, ihn im Verlaufe des Kongresses von Verona an drei Abenden, dem 1., 3. und 4. November 1822, zum Diner zu empfangen. Es kann folglich kein Zweifel daran bestehen, daß der alte Diplomat Gelegenheit genug hatte, seine Denkschrift den Adressaten zu übergeben.

Nur zwei Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung durch Dorow ging der maurerische Sammler und Historiker Georg Kloß in seinen Annalen der Loge zur Einigkeit flüchtig auf die schnelle Beförderung ein, die Haugwitz in Frankfurt erfuhr. Bei dieser Gelegenheit erwähnte Kloß auch das Mémoire, in welchem das einstige Mitglied der traditionsreichen Loge „auf die Aufhebung der Maurerey antrug“. Es ist möglich, daß sich Dorows Druckvorlage, die deutsche Fassung der Denkschrift, zu diesem Zeitpunkt bereits in seinem Besitz befand. Jedenfalls liegt sie als Teil der Kloßschen Sammlung unter der Signatur VIII A 16 wohlverwahrt in den Schränken des Cultureel Maçonniek Centrum „Prins Frederik“ im Haag. Es ist nicht ohne Ironie, daß zu der Zeit, da Hauptmann Funk die Ergebnisse seiner jahrelangen Recherchen zu Papier brachte, Kräfte des „Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg“ unter der Oberaufsicht Schirmers die berühmte Sammlung der „Klossiana“ bereits beschlagnahmt und nach Deutschland verschleppt hatten, darunter das vermeintlich unauffindbare Manuskript.

Der Weg, den das Schriftstück genommen haben muß, läßt sich mit einiger Sicherheit rekonstruieren. Ein Titelblatt trägt in der unverkennbaren Hand des preußischen Diplomaten und Autographensammlers Karl August Varnhagen von Ense folgenden Vermerk: „Von [Haugwitz] dem Kongresse von Verona eingereicht, in französischer Sprache; dann von ihm selbst in’s Deutsche übersetzt. Seine eigne Handschrift.“ In einer merkwürdig redundanten Notiz hat Georg Kloß in der linken oberen Ecke des gleichen Blattes diese Angabe nochmals bekräftigt: „Die Ueberschrift dieses Actenstücks auf dem Titel, geschrieben von der Hand von Varnhagen von Ense bezeugt, daß es Original ist.“ Aus Varnhagens Sammlung veröffentlichte seine Nichte Ludmilla Assing 1867 einen Haugwitz-Brief von 1792 und eine ihn betreffende Anekdote aus dem Jahre 1848. Ein halbes Jahrhundert verging, bis auch Briefe des Prinzen Carl von Hessen an Haugwitz gleicher Provenienz auszugsweise ediert wurden. An den heute in Krakau vorfindlichen Originalen läßt sich ablesen, daß sie Varnhagen unmittelbar von dem ihm persönlich bekannten Haugwitz übermacht wurden. Wilhelm Dorow wiederum stand seit 1833 mit Varnhagen in Verbindung. Sie fühlten sich zweifellos nicht nur durch ihre politischen Anschauungen, sondern auch durch die gemeinsame Leidenschaft des Autographensammelns verbunden. Das Haugwitz-Manuskript dürfte also Teil eines Tauschhandels gewesen sein, wie er seit jeher unter Sammlern üblich ist.

Im Unterschied zu Varnhagens Bibliothek, die als geschlossener Bestand an die Königliche Bibliothek zu Berlin überging, blieb Dorows Autographenkollektion nicht als Ganzes erhalten. Sie wurde im Januar und September 1847 zur Versteigerung aufgerufen und in alle Winde zerstreut. So gelangten zum Beispiel die beiden Briefe Kants ins Britische Museum und in die Stadtbibliothek Königsberg. Da in den Katalogen des Frankfurter Auktionshauses das Haugwitz-Manuskript nicht aufgeführt ist, wird es wohl schon zuvor, vielleicht noch zu Dorows Lebzeiten, den Weg in die Kloßsche Sammlung gefunden haben.

Bliebe zu klären, ob das Mémoire tatsächlich den Herrschern der Heiligen Allianz übergeben wurde, und welche Folgen dies hatte. Auf Preußen bezogen, sind die Indizien spärlich. Auch die Dahlemer Freimaurerakten geben wenig her. Erst in einer Eingabe der Provinzialloge von Mecklenburg an die Große Landesloge vom 24. September 1823 (!) findet sich die Besorgnis artikuliert, daß „die beunruhigsten Gerüchte über diejenigen Maasregeln“ in Umlauf seien, „welche die auf dem Congresse zu Verona versammelten, Monarchen gegen alle geheime Ge[sell]sch[af]ten und namentlich gegen die Fr. My. beabsichtigen sollten“. Man sehe (vermutlich in der Presse) „häufig die Namen Fr. M. und Insurgent zusammengestellt“. Ein Zeuge „der tiefen Bestürzung und Furcht die sich bei den ersten beunruhigenden Nachrichten über die Vorgänge in Verona bei den Berliner Brüdern verrieth“, gab 1850 die abwiegelnde Reaktion von König Friedrich Wilhelm III. wie folgt wieder: „,Melden Sie Ihren Brüdern‘ sprach er in Verona zu seinem Leibarzt Wiebel, einem Mitgliede der Gr. Landes-Loge von Deutschland – ,daß ich hier des Freimaurer-Ordens und seiner Erhaltung in Preußen wegen einen schweren Stand gehabt, daß ich aber das Vertrauen welches ich einmal den Brüdern geschenkt ich Ihnen nicht ohne triftigere Gründe als ich sie hier vernommen wieder entziehen werde; daß der Freimaurer-Orden auch fernerhin auf meinen Schutz rechnen kann so lange er sich innerhalb seiner selbstgesteckten Gränzen hält [. . .]‘“. Ob sich diese Zusicherungen in einem zeitgenössischen Dokument niedergeschlagen haben, muß vorerst offen bleiben. Fest steht nur, daß es nicht zu einer Verschärfung der im Edikt von 1798 festgeschriebenen staatlichen Aufsicht über das Logenwesen in Preußen kam. Die Berliner Großlogen übersandten einmal jährlich die aktualisierten Mitgliederlisten und feierten auch weiterhin dankbar den Geburtstag und die Thronjubiläen des Monarchen.

Friedrich Wilhelm III., so scheint es, hatte die einzig vernünftige Haltung gegenüber Haugwitz eingenommen und seine Anschuldigungen, so er sie denn unmittelbar (und nicht indirekt über Aussagen Metternichs oder anderer Freimaurergegner) wahrnahm, als unglaubwürdig zurückgewiesen. Funks Kommentar, sosehr er auch auf die Frage zugespitzt war, ob es sich bei der Denkschrift um eine Fälschung handele oder nicht, ging durchaus auch auf die phantastischen Übertreibungen ein, mit denen der greise Diplomat seine Warnung vor den Geheimgesellschaften ausgemalt hatte. So wies er die von Haugwitz angespielte, von vielen anderen Verschwörungstheoretikern immer wieder variierte Darstellung zurück, wonach „die französische Revolution mit ihren Folgen [. . .] in freimaurerischen Konventen beschlossen“ worden sei (F 32). Bekanntlich hatte Wilhelm Mensing von seiten des SD die Aufgabe übertragen bekommen, diese Legende zu überprüfen, und hielt sich nach dem Krieg viel darauf zugute, mit seiner dürftigen Dissertation über den Wilhelmsbader Konvent zu ihrer Falsifizierung beigetragen zu haben. Durch die vorgegebene Aufgabenverteilung erklärt sich auch, daß Adolf Roßberg ausdrücklich davon absah, das Geschehen auf den maurerischen Konventen im Rahmen seiner Untersuchung mitzubehandeln. Das Ensemble der NS-Freimaurerforscher um 1940, in dem Karl Funk eine exzentrische Position einnahm, arbeitete sich also arbeitsteilig an den Mythenbildungen des Antimasonismus ab. In Einzelfällen schreckte man nicht vor der Zertrümmerung überlieferter Annahmen und vermeintlicher Beweismittel zurück. Niemand hat dies so klar formuliert wie Funk: „Die antimaurerische wie antijüdische Propaganda“, so heißt es auf der letzten Seite seiner Arbeit, „ist derart mit gefälschten und frei erfundenen Zitaten übersättigt, dass ein weiteres Dulden solcher sogenannten Beweismittel unserem Kampfe schwerste Nachteile und Gefährdung bringen muss. Soll der Geist der Freimaurerei und der ihr verwandten Geheimverbände für alle Zukunft von den Fluren des neuen Europa ferngehalten werden, dann nützt nicht oberflächliche Propagandatätigkeit, dann muss vielmehr nur mit wissenschaftlichem Ernst der Kampf weiter geführt werden.“ (F 42)

Ebendieses ambitionierte Programm lag zweifellos auch den vom SD geförderten Forschungen zur Geschichte der Freimaurerei zugrunde: Die kritische Überprüfung der antimasonischen Traditionen sollte seitens der von dem Historiker Günther Franz angeleiteten Forscher mit „wissenschaftlichem Ernst“, aber eben doch im Interesse eines fortwährenden „Kampfes“ betrieben werden. Hier ließe sich eine Linie zum „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ ziehen, der sogenannten „Aktion Ritterbusch“, deren Ablauf der Romanist Frank-Rutger Hausmann untersucht hat. Es wäre allerdings wohlfeil, die Etablierung einer „kämpferischen Wissenschaft“ für etwas spezifisch Nationalsozialistisches zu halten. Die historische Forschung in aller Welt ist seit jeher nicht nur politisch instrumentalisiert, sondern auch immer wieder mit genauen politischen Zielvorgaben betrieben worden. Die nationalsozialistische Freimaurerforschung war Teil einer Siegergeschichtsschreibung. Die Gewißheit, die europäische Freimaurerei beinahe restlos vernichtet zu haben, und die enorme Beute, die bei diesem Sieg davongetragen worden war, bildeten die Voraussetzungen für das Projekt einer Verwissenschaftlichung der antimasonischen Propaganda. Seine Grenzen fand dieses Projekt in der Zwangsvorstellung, daß der Kampf gegen eine transatlantische Internationale der Freimaurerei noch zu entscheiden sei, und darüber hinaus in der Strategie, zweckgebundene Forschung zu betreiben, um die auf diesen Gegner zielende Propaganda glaubwürdiger und haltbarer zu machen. Welche Konsequenzen diese Interaktion von Forschung und Propaganda haben würde, war 1941/42, als Funk und Roßberg die Ergebnisse ihrer Studien vorstellten, noch nicht absehbar. Bald darauf hatten sich die durchaus ehrgeizigen Absichten der „Gegnerforschung“ ohnehin weltgeschichtlich erledigt.

*Nachtrag 2013.

11 Februar 2006

Kampfzonen und Marktplätze

Gekürzt unter dem Titel Kampfplatz Katalog erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 2. 5. 2005

Bibliothekskataloge gelten immer noch nicht als spannende Lektüre, obwohl sich ihr Unterhaltungswert in den letzten Jahren stetig erhöht hat. Die Digitalisierung hat herkömmliche Ordnungsprinzipien, allen voran das Alphabet in der eigentümlichen Ausdeutung der Preußischen Instruktionen, weitgehend obsolet werden lassen. An ihre Stelle sind hypertextuelle Strukturen getreten, die mit jeder Suche neue Querverbindungen in alle Richtungen eröffnen. Bisher ist der Raum, der auf diese Weise durchmessen werden kann, in der Regel noch klar begrenzt, es ist der Bestand an Büchern und anderen Medien der jeweiligen Bibliothek. Das soll sich ändern.

Wie eigentlich alle bibliothekarische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte kommt auch diese aus Amerika. Das Schlagwort lautet bibliographic enrichment. Die Kataloge, diese Tresore der Information, sollen weiter „angereichert“ werden. Was das bedeutet, kann man an ersten Pilotprojekten erkennen.

So hat der Gemeinsame Bibliotheksverbund, der die Sammlungen von mehr als 700 Bibliotheken der Länder Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen sowie die der Staatsbibliothek zu Berlin nachweist, damit begonnen, Inhaltsverzeichnisse zu erfassen. Das ist unbestreitbar ein Fortschritt, gab doch manch klassischer Titel wie zum Beispiel Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt oder Festschrift für Prof. Dr. Ernst Steinbeißer zum 65. Geburtstag nur sehr ungefähre Auskünfte über die Themenstellung der betreffenden Bücher.

Der nord- und mitteldeutsche Verbund macht darüber hinaus Anstalten, Titelaufnahmen mit Rezensionen zu verknüpfen. Wiederum kommt die Anregung aus den USA, wo die Library of Congress, die weltgrößte Bibliothek, dazu übergegangen ist, in ihrem Katalog Buchbesprechungen von „H-Net – Humanities and Social Sciences Online“ zu verankern. Entsprechend verfährt der Gemeinsame Bibliotheksverbund seit einiger Zeit mit den geschichtswissenschaftlichen Rezensionen des deutschen H-Net-Ablegers „H-Soz-u-Kult“. Wer nun beispielsweise die Familienchronik Die Krupps von Thomas Rother (Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2001) in einer niedersächsischen Bibliothek sucht, wird vor der Lektüre dringend gewarnt: Das Buch sei „ein Ärgernis . . . schlampig recherchiert, schlecht strukturiert und miserabel geschrieben“. Das mag zutreffen. Aber die Rezensentin war als Mitarbeiterin von Lothar Gall, des von der Krupp-Stiftung offiziell beauftragten Historikers, in ihrem Urteil vielleicht nicht ganz unbefangen. Das Handelsblatt meinte jedenfalls, der Journalist Rother habe ein „lesenswertes Buch über Größe und Tragik der Krupps“ vorgelegt. Davon aber erfährt der Bibliotheksbenutzer nichts.

Die Praxis, Literatursuchenden das Studium solcher Beipackzettel anzuempfehlen, ist offensichtlich eine Verirrung. Kataloge sind keine Kampfplätze, sie dienen einzig dem Nachweis von Büchern und anderen Medien. Die zugehörigen Verdammungsurteile oder Lobpreisungen gehören nicht in sie hinein. Diese sind Teil einer öffentlichen Debatte, die nur an anderen Orten geführt und protokolliert werden kann. Die nahezu absolute Neutralität der Kataloge, welche Mein Kampf nicht grundsätzlich anders verzeichnen als Mein Pferde-Malbuch, hat ihren guten Sinn. Dies vorausgesetzt, wäre noch zu fragen, warum eigentlich ein ganz bestimmtes Rezensionsorgan – sicher nicht das bedeutendste – gegenüber anderen privilegiert wird.

Auch der Bibliotheksverbund Bayern hat bevorzugte Kooperationspartner. Vor gut zwei Jahren hat er sich mit der Firma „Ex Libris Ltd.“ verbunden. Für die Benutzer seiner Kataloge zeigt sich das an dem Kürzel „SFX“, welches anzuklicken ist, wenn Informationen zur Orts- oder Fernleihe von Büchern gewünscht werden. Die drei Buchstaben stehen für einen „kontext-bezogenen Linking Service, mit dem der Anwender unter Berücksichtigung institutioneller Gegebenheiten und ausgehend von einer Suchanfrage durchgängig zu weiterführenden Informationsquellen und Services in heterogenen Umgebungen navigieren kann“. So weit eine kristallklare Presseerklärung des Münchner Verbunds. Konkret heißt das: Es öffnet sich auf Mausklick ein weiteres Fenster mit den Optionen „Bestand im Bibliotheksverbund Bayern / Fernleihe / Rezension lesen oder Buch bestellen über BookFinder.com“. Letzteres ist eine interessante Alternative. Wozu überhaupt in die Bibliothek gehen, wenn man das Buch auch kaufen kann?

Die Firma BookFinder.com wurde vor zehn Jahren von Studenten an der kalifornischen Universität in Berkeley bei San Francisco gegründet. Ihr Ziel sei es, liest man in einer Selbstdarstellung, Lesern unvoreingenommene, stets aktuelle Informationen über online erhältliche Bücher bereitzustellen. Das hört sich gut an. Tatsächlich aber präsentieren sich die von BookFinder ausgeworfenen Resultate ausgesprochen voreingenommen – sie führen schnurstracks zum Angebot des Internet-Buchhändlers Amazon. Ein „offener Marktplatz“ sieht anders aus, ein seriöser, keinen Geschäftsinteressen unterworfener Bibliothekskatalog auch.

Früher, als der Begriff „Anreicherung“ noch nicht geprägt war, hatte man von Katalogpflege noch andere Begriffe. So strebte man nach möglichst vollkommenen Namensansetzungen und in diesem Zusammenhang auch danach, Pseudonyme aufzuklären und anonyme Schriften ihren Autoren zuzuordnen. Der Ehrgeiz, diese unabschließbare Arbeit zu leisten, scheint erloschen.

Vor mittlerweile anderthalb Jahren enthüllte Jens Bisky die Identität jener „Anonyma“, die wenige Tage vor Kriegsende begann, ihren Erlebnisbericht Eine Frau in Berlin zu schreiben. Das hat nicht allen gefallen, aber widersprochen worden ist seiner Darstellung nicht. Dennoch hat noch keine deutsche Bibliothekarin den Titel Eine Frau in Berlin mit dem Autorennamen „Marta Hillers“ verknüpft. Und so gilt als deren einziges Werk auch weiterhin die 1938 in Leipzig erschienene Broschüre Rund um die Zellwolle.

07 Februar 2006

Den Christen eine Torheit

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11. 9. 2005

Die Theologen haben die Bibel nur unterschiedlich interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. So sehen es jedenfalls Teile der evangelischen Kirche. Deshalb wird es bald eine politisch korrigierte »Bibel in gerechter Sprache« geben. An diesem Übersetzungsvorhaben wird seit 2001 an der Evangelischen Akademie Arnoldshain (Taunus) gearbeitet; im nächsten Jahr soll es abgeschlossen sein.

Als Dr. Martin Luther die Wittenberger Version der Schrift vorlegte, machte man ihm den Vorwurf, die im »Sendbrief vom Dolmetschen« erläuterten Grundsätze seiner Verdeutschung begründeten eine »newe Schwermerey«. Unversehens wurde daraus eine neue Kirche. So weit wird es mit der Arnoldshainer Bibel nicht kommen, denn die reformatorischen Tendenzen, denen sie zur Sprache verhelfen soll, gibt es längst. Alle Mitwirkenden konnten umstandslos darauf verpflichtet werden, bei ihrer Arbeit »feministische und befreiungstheologische Diskurse und die Diskussion des christlichen Antijudaismus zu berücksichtigen«. Auf diesen Traditionen läßt sich ebenso aufbauen wie auf der amerikanischen Debatte um »political correctness« und »inclusive language«.

Letztere ist mit »gerechter Sprache« gemeint: eine Sprachregelung, die verhindert, daß sich Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Segmente linguistisch ausgegrenzt oder herabgesetzt fühlen könnten. In dieser Sprache sollen sich alle eingeschlossen fühlen, jede potentielle Diskriminierung ist abzustellen. Wirklich jede, zum Beispiel auch die Diskriminierung der Pharisäer und erst recht die ihrer Weiber. Die Vorwürfe Jesu, die Mitglieder dieser Sekte handelten ihren Glaubenssätzen zuwider, waren offensichtlich zu pauschal: »Die verallgemeinernde Sprache des Textes, wenn sie in der Übersetzung wiederholt wird, hat dazu geführt, daß ,die Pharisäer‘, weil sie Pharisäer sind, als Heuchler, die ihre eigene Lehre nicht befolgen, verstanden werden«, erläutert die feministische Theologin Luise Schottroff mit Blick auf das Evangelium des Matthäus. Dagegen wird ihre eigene Übertragung die »pharisäischen Männer und Frauen« retrospektiv in Schutz nehmen.

Diese Art der Übersetzungskritik ist, wie man sieht, eine Textkritik im Wortsinne. Nicht Luther liegt falsch und auch nicht Erasmus, sondern Matthäus und letzten Endes Jesus selbst. Insofern unterscheidet sich die Arnoldshainer Bibel schon im Ansatz von den meisten der vorangegangenen Bemühungen um einen neuen oder revidierten deutschen Text der Testamente. Und während evangelikale Bewegungen darauf aus sind, buchstäblich an das zu glauben, was geschrieben steht, soll in der »Bibel in gerechter Sprache« endlich das zu lesen sein, woran ihre Autoren längst glauben: zum Beispiel an die Gleichberechtigung von Pharisäerinnen und Samaritern.

Für dieses Ziel steht ein Herausgeberbeirat ein, dem der hessen-nassauische Kirchenpräsident Peter Steinacker vorsitzt. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau trägt über die Arnoldshainer Akademie auch einen großen Teil der Kosten; Unterstützung kam darüber hinaus vom Bundesfamilienministerium unter Christine Bergmann. Die Übersetzungsarbeit kann aber von Wohlmeinenden und Gutgläubigen auch gezielt gefördert werden: Die vier Evangelien wurden auf 4500 bis 7500 Euro taxiert, die »ApostelInnengeschichte« auf 7000 Euro. Der Brief des Judas war schon für 500 Euro zu haben. Für Jesaja und Jeremia werden noch Sponsoren gesucht.

Allemal unbezahlbar müssen die im mehrjährigen Arbeits- und Diskussionsprozeß gewonnenen hermeneutischen Erfahrungen der Mitwirkenden gewesen sein: »Nicht ich lese die Bibel, sondern sie liest mich«, beschreibt etwa Detlef Dieckmann-von Bünau sein sprachmystisches Erlebnis. Der Berliner Theologe hat sich das Buch »Kohelet« (vulgo »Prediger«) vorgenommen. »Ich sah Knechte auf Rossen und Fürsten zu Fuße gehen wie Knechte«, heißt ein Vers dieses Buches bei Dr. Luther. Daß die Wortwahl des Reformators nach bald fünfhundert Jahren nicht mehr ohne weiteres verständlich ist, war bisher der Hauptantrieb aller Revisionsbemühungen. Übersehen wurde dabei, wie in dieser Sprache die Gefühle der Fürstinnen und anderer gesellschaftlicher Randgruppen systematisch verletzt werden. Dr. Dieckmann-von Bünau macht dem ein Ende: »Ich habe schon Angestellte auf Pferden gesehen – und Hochgestellte, die wie Angestellte auf der Erde gingen!« lautet also die gleiche Stelle in der – noch vorläufigen – Neufassung.

Ist das Ende der ungerechten Welt nahe? Der »Herausgabekreis« der neuen Bibel warnt vor überzogenen Erwartungen. »Eine Bibelübersetzung in gerechter Sprache soll nicht dazu führen, daß sich Frauen in einer patriarchalen Welt heimisch fühlen«, meint die Heidelberger Alttestamentlerin Dorothea Erbele-Küster. Ein Unbehagen in der männlich dominierten Kultur muß bleiben, solange diese nicht durch eine neue Ordnung abgelöst werden kann, in der die Grundsätze der Gleichheit und Schwesterlichkeit herrschend geworden sind. Bis es so weit ist, bietet der Brief des Paulus an die Römerinnen und Römer (in der Übersetzung von Claudia Janssen) stillen Trost: »In unserer Ohnmacht steht uns die Geistkraft bei . . . Die Geistkraft selbst tritt für uns ein mit wortlosem Stöhnen.«

Drei Zeilen Eigenlob

Leicht gekürzt erschienen in: Berliner Zeitung, 3. 2. 2006

Auf seiner heutigen Sitzung nimmt sich der Rat für deutsche Rechtschreibung unter dem Vorsitz Hans Zehetmairs noch ungelöster Fragen der Groß- und Kleinschreibung an. Der Vorschlag, statt „Recht haben“ künftig „rechthaben“ zu schreiben, wird vielleicht keine Mehrheit finden, aber sicherlich zu witzig gemeinten Kommentaren über den Zusammenhang zwischen Rechtschreibung und Rechthaberei herausfordern.

Zu besprechen sind außerdem einige Gutachten, die von der Kultusministerkonferenz über die Weihnachtstage eingeholt worden sind. Die Diskussion der meisten von ihnen dürfte nicht sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. So ist die Stellungnahme des Schulbuchverlegerverbands „VdS Bildungsmedien“ ganze zwei Zeilen lang, die des Fachverbands Deutsch im Deutschen Germanistenverband drei Zeilen, die des Deutschen Journalistenverbands vier Zeilen.

Die Autoren dieser und einiger anderer Voten sind selbst Mitglieder des Rats. Sie bewerten also ihr eigenes Werk, weshalb ihr Urteil zwar kurz, dafür aber uneingeschränkt positiv ausfällt. Der Rechtschreibrat wird aller Voraussicht nach diese Gutachten seinerseits gutheißen und an die KMK zurückspedieren. Deren Bonner Zentrale leitet sie daraufhin an die Kultusbehörden in den einzelnen Ländern weiter. Im Hause der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport kommen die Unterlagen dann auf den Tisch von Fritz Tangermann.

Studiendirektor Tangermann ist Vorsitzender des Fachverbands Deutsch im Deutschen Germanistenverband, der ihn in den Rechtschreibrat entsandt hat. Er ist Autor von dessen dreizeiliger Stellungnahme. Und er ist hauptamtlich beim Referat I D der Senatsbehörde mit der „Qualitätsentwicklung“ der deutschen Rechtschreibung und anderer Unterrichtsgegenstände beschäftigt.

Demnächst bietet sich ihm die vielleicht einmalige Gelegenheit zur Selbstbegutachtung der eigenen Selbstbegutachtung. Er kann seinem Dienstherrn, Bildungssenator Klaus Böger, berichten, wie er im Namen des Germanistenverbandes die Arbeit des Rechtschreibrats beurteilt hat, an der er selbst als Delegierter des Germanistenverbandes beteiligt war. Viel Mühe sollte er sich damit aber nicht machen, drei Zeilen reichen vollauf.

Sieben lange Sitzungstage haben die Sprachwarte bisher mit der Reform der reformierten Rechtschreibung zugebracht. Nun blicken sie mit Wohlgefallen auf das Geschaffene. Warum eigentlich auch nicht! Am Anfang war bloß das Wort. Am Ende der Mannheimer Beratungen steht immerhin eine vorläufige amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung, die dritte in zehn Jahren.

Eine orthographische Legende

Gekürzt erschienen in: F.A.Z., 3. 2. 2006

Der Rat für deutsche Rechtschreibung wird heute in Mannheim über Fragen der Groß- und Kleinschreibung beraten. Auf seinem grünen Tisch liegt der Vorschlag, statt Recht haben künftig wieder recht haben zu schreiben. Vermutlich wird er keine Mehrheit finden, denn die Großschreibung hat für die im Rat tonangebenden Verfechter der Reformrechtschreibung einen hohen Symbolwert.

Aus diesem Grunde hat der Rat über die ss-Schreibung gar nicht erst diskutiert. Es gilt der Grundsatz: Wer dass schreibt und nicht daß, schreibt reformiert. Da der Rat nur einige besonders auffällige Unzulänglichkeiten der Reform, nicht aber diese selbst aus der Welt schaffen soll, durfte er die auf den Grammatiker August Heyse (1764–1829) zurückgehende Regelung nicht antasten.

Sie sei einleuchtend und habe sich bewährt, heißt es gewöhnlich zur Begründung. So argumentierte bereits Hofrat Johann Huemer, der österreichische Abgesandte auf der zweiten Berliner Orthographischen Konferenz. Laut Protokoll der Eröffnungssitzung am 17. Juni 1901 erklärte Huemer seinerzeit, »dass sich die Heysesche Schreibung in Österreich bewährt habe, aber dass Österreich schliesslich bereit sein werde, im Interesse der Einheitlichkeit hierin ein Opfer zu bringen«.

Tatsächlich hatte Unterrichtsminister Karl von Stremayr am 22. November 1879 die Deutschlehrer aller österreichischen Mittelschulen dazu aufgefordert, »in einer unter dem Vorsitze des Directors abzuhaltenden Conferenz die von den Schülern aller Classen der betreffenden Anstalt consequent zu fordernde Orthographie zu vereinbaren« und sich dabei auf das vom Kaiserl.-königl. Schulbücher-Verlag neu herausgebrachte Werk Regeln und Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zu stützen.

Die Annahme, von 1879 bis zur Einführung der Einheitsorthographie 1902 sei in der Donaumonarchie die Heysesche Schreibung praktiziert worden, beruht jedoch auf der häufig anzutreffenden Verwechslung von Schulstandard und allgemein üblicher Rechtschreibung.

Das Digitalisierungsprojekt Austrian Newspapers Online bietet in diesem Zusammenhang interessante Aufschlüsse. Zwar ging das Reichsgesetzblatt für die im Reichsrath vertretenen Königreiche und Länder 1888 zur Heyseschen Schreibung über. Aber weder die offiziöse Wiener Zeitung noch das staatstragend-katholische Vaterland folgten den amtlichen Vorgaben. Das Witzblatt Der Floh verweigerte sich ebenso wie der angesehene Pester Lloyd, die christlich-soziale Freiheit! ebenso wie das Volksblatt, und selbst die gewöhnlich dem Fortschritt huldigende Neue Freie Presse ignorierte die Neuerung. Einzig die Innsbrucker Nachrichten stellten am 2. Januar 1891 auf die staatlich vorgegebene Schreibung um, bei Gelegenheit einer Formatänderung. Am 1. Juli 1902 kehrten sie dann kommentarlos zur herkömmlichen ß-Schreibung zurück.

Heyses ss-Schreibung hat sich in Wirklichkeit weder unter Kaiser Franz Joseph noch in den letzten Jahren bewährt. Sie führt, für jedermann sichtbar, zu unbefriedigenden Wortbildern (Flussaue, Missstand) und vermehrten Fehlern (Grüsse, Ergebniss). »Also mich ärgert es schon, wenn die Kultusminister sagen, das (!) jetzt an den Schulen besser rechtgeschrieben wird«, zitierte die Neue Osnabrücker Zeitung vor einiger Zeit den Leipziger Psychologieprofessor Harald Marx, der als einziger Forscher die Fehlerhäufigkeit in Schuldiktaten vor und nach der Reform systematisch untersucht hat. Augenfälliger kann man das Problem wohl nicht in Worte fassen.

Rumpelstilz in Rostock

Gekürzt erschienen in: Neues Deutschland, 3. 2. 2006

Wenn Germanisten Bücher schreiben, möchten sie damit gerne in die Zeitung kommen. Wenn sie Bücher klauen, lieber nicht. Rainer Baasner zum Beispiel, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Rostock.

Vor zwei Jahren erschien ein neues Handbuch der Geschichte der Literaturkritik. Es biete »einen fundierten Überblick«, hieß es dazu in der FAZ. »Professoral« sei zwar der »Duktus«, der Inhalt hingegen »wenig gelehrt«, monierte die Süddeutsche Zeitung. Ganz offen gaben beide Blätter an: Bei den Herausgebern des Buches handelte es sich um Rainer Baasner und seinen Marburger Fachkollegen Thomas Anz.

Kürzlich nun hatte Professor Baasner einen Gerichtstermin in Bonn. Ein Angestellter der dortigen Universitätsbibliothek hatte ihn überführt, mehr als hundert wertvolle Bücher gestohlen und verkauft zu haben, Gesamtschaden: 250 000 Euro. Baasner zeigte den Bibliothekar an, legte gefälschte Quittungen vor – und gestand schließlich. Das Amtsgericht verhängte wegen schweren Betruges eine Gefängnisstrafe von 18 Monaten, auf Bewährung.

Die Sache erregte Aufsehen, und der Germanist kam, diesmal wider Willen, in die Zeitung. Aber seltsam: Allenthalben war nur neblig von einem 50 Jahre alten Hochschullehrer die Rede, in Bonn promoviert und mittlerweile an einer Universität »im Osten« tätig. Das Diebesgut habe er bei einem Auktionshaus »im hessischen Königstein« eingeliefert. Et cetera etepetete.

Tatsächlich verhält es sich wie folgt: Rostock liegt im Norden, nicht im Osten. Das Auktionshaus heißt Reiss & Sohn und gilt als feine Adresse. Und der in erster Instanz Verurteilte bekleidet ein öffentliches Amt und hat einen Namen. Er heißt nicht Rippenbiest, nicht Hammelswade und nicht Schnürbein. Er heißt Baasner und hat einmal einen Aufsatz geschrieben über Johann Gottfried Seume und »die höchst erfreuliche Vernachlässigung konventioneller Rücksichten«.

Der Richter urteilte, der Professor habe aus reiner Geldgier gehandelt. Und er habe jedes Recht verwirkt, an einer Hochschule den akademischen Nachwuchs auszubilden. Das ist mal eine klare Sprache.