11 Februar 2006

Kampfzonen und Marktplätze

Gekürzt unter dem Titel Kampfplatz Katalog erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 2. 5. 2005

Bibliothekskataloge gelten immer noch nicht als spannende Lektüre, obwohl sich ihr Unterhaltungswert in den letzten Jahren stetig erhöht hat. Die Digitalisierung hat herkömmliche Ordnungsprinzipien, allen voran das Alphabet in der eigentümlichen Ausdeutung der Preußischen Instruktionen, weitgehend obsolet werden lassen. An ihre Stelle sind hypertextuelle Strukturen getreten, die mit jeder Suche neue Querverbindungen in alle Richtungen eröffnen. Bisher ist der Raum, der auf diese Weise durchmessen werden kann, in der Regel noch klar begrenzt, es ist der Bestand an Büchern und anderen Medien der jeweiligen Bibliothek. Das soll sich ändern.

Wie eigentlich alle bibliothekarische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte kommt auch diese aus Amerika. Das Schlagwort lautet bibliographic enrichment. Die Kataloge, diese Tresore der Information, sollen weiter „angereichert“ werden. Was das bedeutet, kann man an ersten Pilotprojekten erkennen.

So hat der Gemeinsame Bibliotheksverbund, der die Sammlungen von mehr als 700 Bibliotheken der Länder Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen sowie die der Staatsbibliothek zu Berlin nachweist, damit begonnen, Inhaltsverzeichnisse zu erfassen. Das ist unbestreitbar ein Fortschritt, gab doch manch klassischer Titel wie zum Beispiel Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt oder Festschrift für Prof. Dr. Ernst Steinbeißer zum 65. Geburtstag nur sehr ungefähre Auskünfte über die Themenstellung der betreffenden Bücher.

Der nord- und mitteldeutsche Verbund macht darüber hinaus Anstalten, Titelaufnahmen mit Rezensionen zu verknüpfen. Wiederum kommt die Anregung aus den USA, wo die Library of Congress, die weltgrößte Bibliothek, dazu übergegangen ist, in ihrem Katalog Buchbesprechungen von „H-Net – Humanities and Social Sciences Online“ zu verankern. Entsprechend verfährt der Gemeinsame Bibliotheksverbund seit einiger Zeit mit den geschichtswissenschaftlichen Rezensionen des deutschen H-Net-Ablegers „H-Soz-u-Kult“. Wer nun beispielsweise die Familienchronik Die Krupps von Thomas Rother (Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2001) in einer niedersächsischen Bibliothek sucht, wird vor der Lektüre dringend gewarnt: Das Buch sei „ein Ärgernis . . . schlampig recherchiert, schlecht strukturiert und miserabel geschrieben“. Das mag zutreffen. Aber die Rezensentin war als Mitarbeiterin von Lothar Gall, des von der Krupp-Stiftung offiziell beauftragten Historikers, in ihrem Urteil vielleicht nicht ganz unbefangen. Das Handelsblatt meinte jedenfalls, der Journalist Rother habe ein „lesenswertes Buch über Größe und Tragik der Krupps“ vorgelegt. Davon aber erfährt der Bibliotheksbenutzer nichts.

Die Praxis, Literatursuchenden das Studium solcher Beipackzettel anzuempfehlen, ist offensichtlich eine Verirrung. Kataloge sind keine Kampfplätze, sie dienen einzig dem Nachweis von Büchern und anderen Medien. Die zugehörigen Verdammungsurteile oder Lobpreisungen gehören nicht in sie hinein. Diese sind Teil einer öffentlichen Debatte, die nur an anderen Orten geführt und protokolliert werden kann. Die nahezu absolute Neutralität der Kataloge, welche Mein Kampf nicht grundsätzlich anders verzeichnen als Mein Pferde-Malbuch, hat ihren guten Sinn. Dies vorausgesetzt, wäre noch zu fragen, warum eigentlich ein ganz bestimmtes Rezensionsorgan – sicher nicht das bedeutendste – gegenüber anderen privilegiert wird.

Auch der Bibliotheksverbund Bayern hat bevorzugte Kooperationspartner. Vor gut zwei Jahren hat er sich mit der Firma „Ex Libris Ltd.“ verbunden. Für die Benutzer seiner Kataloge zeigt sich das an dem Kürzel „SFX“, welches anzuklicken ist, wenn Informationen zur Orts- oder Fernleihe von Büchern gewünscht werden. Die drei Buchstaben stehen für einen „kontext-bezogenen Linking Service, mit dem der Anwender unter Berücksichtigung institutioneller Gegebenheiten und ausgehend von einer Suchanfrage durchgängig zu weiterführenden Informationsquellen und Services in heterogenen Umgebungen navigieren kann“. So weit eine kristallklare Presseerklärung des Münchner Verbunds. Konkret heißt das: Es öffnet sich auf Mausklick ein weiteres Fenster mit den Optionen „Bestand im Bibliotheksverbund Bayern / Fernleihe / Rezension lesen oder Buch bestellen über BookFinder.com“. Letzteres ist eine interessante Alternative. Wozu überhaupt in die Bibliothek gehen, wenn man das Buch auch kaufen kann?

Die Firma BookFinder.com wurde vor zehn Jahren von Studenten an der kalifornischen Universität in Berkeley bei San Francisco gegründet. Ihr Ziel sei es, liest man in einer Selbstdarstellung, Lesern unvoreingenommene, stets aktuelle Informationen über online erhältliche Bücher bereitzustellen. Das hört sich gut an. Tatsächlich aber präsentieren sich die von BookFinder ausgeworfenen Resultate ausgesprochen voreingenommen – sie führen schnurstracks zum Angebot des Internet-Buchhändlers Amazon. Ein „offener Marktplatz“ sieht anders aus, ein seriöser, keinen Geschäftsinteressen unterworfener Bibliothekskatalog auch.

Früher, als der Begriff „Anreicherung“ noch nicht geprägt war, hatte man von Katalogpflege noch andere Begriffe. So strebte man nach möglichst vollkommenen Namensansetzungen und in diesem Zusammenhang auch danach, Pseudonyme aufzuklären und anonyme Schriften ihren Autoren zuzuordnen. Der Ehrgeiz, diese unabschließbare Arbeit zu leisten, scheint erloschen.

Vor mittlerweile anderthalb Jahren enthüllte Jens Bisky die Identität jener „Anonyma“, die wenige Tage vor Kriegsende begann, ihren Erlebnisbericht Eine Frau in Berlin zu schreiben. Das hat nicht allen gefallen, aber widersprochen worden ist seiner Darstellung nicht. Dennoch hat noch keine deutsche Bibliothekarin den Titel Eine Frau in Berlin mit dem Autorennamen „Marta Hillers“ verknüpft. Und so gilt als deren einziges Werk auch weiterhin die 1938 in Leipzig erschienene Broschüre Rund um die Zellwolle.